Der Traum
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Die Zeit ist wie jeder Tag und jeder Tag ist wie alle Zeit. So geschah es. Und so geschieht es immer noch.
Ein Teich lag da im zarten Morgenlicht, fast ganz bedeckt mit großen Blättern, die an langen dünnen Stängeln tief im Schlamm verwurzelt sind. Hunderte solcher Blätter lagen ausgebreitet auf dem ruhigen Wasser. In der Nähe des Ufers wuchs ein seltsames Blatt. Es schien zusammengefaltet, statt flach und schwimmend. Es war nicht wie die anderen. Der Knabe dem alles hier gehörte, alles, soweit das Auge blicken kann, kam jeden Morgen auf seinem Rundgang auch am Teich vorbei. Ihm entging nichts in seinem Reich, nicht die winzigste Winzigkeit. Sofort entdeckte er das eigenwillige Blatt und mit einem schnellen Schwertstreich war es auch schon abgeschnitten, und vergessen. Einige Tage vergingen und wieder war im Wasser so ein Blatt aufgetaucht. Diesmal schnitt der Knabe es mit zwei Schwertstreichen. Aber schon am nächsten Tag war das Blatt wieder da. Er riss es mit der Wurzel aus. Sieben Mal wiederholte sich das gleiche. Dann kamen Tage an denen kein neues eigenwilliges Blatt zu sehen war. Nur die vielen, schwimmenden flachen, gleichaussehenden, dicht nebeneinander. An manchen Stellen sogar übereinander. Und ein Engel hatte einen Traum: ...eine Blüte sei er, voll Freude, als Knospe wartete er seit dem Anbeginn der Zeit, um zu wachsen, sich zu entfalten, zu blühen, sich zu zeigen... Doch wurde die Knospe roh zerstört, immer wieder... Schwertstreiche trennten sie von ihrer Wurzel, Dolchstöße verwundeten ihr das Herz, wütende Hände rissen sie samt den Wurzeln aus. Unachtsame Riesen ohne Wissen um wahre Schönheit. ©1994 Walburga Rauchenwald |